Und sie bewegt sich doch: Diese geflügelten Worte werden Galileo Galilei zugeschrieben. Ob er sie je geäußert hat, ist zwar fraglich – doch dass er ihnen zugestimmt hätte, steht außer Zweifel. „Sie“ ist unsere Erde. Jahrtausendelang hatte das geozentrische Weltbild sie starr und unbewegt in das Zentrum des Universums gesetzt: Alle übrigen Planeten, die Sonne, der Mond und der Fixsternhimmel sollten sich um sie drehen.
Galileo Galilei hingegen hat als früher Verfechter ein heliozentrisches Weltbild vertreten: eines, dass die Erde von ihrem Ehrenplatz im Mittelpunkt des Universums schubst und an diese Stelle die Sonne setzt. Demnach würde sich die Erde um die Sonne drehen – und sich eben doch bewegen. Heutzutage wissen wir, dass Galilei und andere frühe Vertreter dieses Weltbilds Recht behalten sollten – nur: Wie konnten sie überhaupt beweisen, dass sich die Erde um die Sonne dreht?
In dieser Folge von AstroGeo erzählt Franzi die Geschichte einer Suche, die Jahrtausende gedauert hat: die nach der stellaren Parallaxe. Diese scheinbare Bewegung von Sternen im Laufe eines Erdjahres ist nicht nur ein Beleg dafür, dass sich die Erde um die Sonne dreht – sie ist bis heute die einzige Möglichkeit, die Entfernung zu Sternen direkt zu vermessen und damit die Grundlage so ziemlich all unseres Wissens über den Weltraum und unser Universum.
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Quellen
- Alan W. Hirshfeld: Parallax: The Race to Measure the Cosmos (2001)
Episodenbild: ESA/Gaia/DPAC; CC BY-SA 3.0 IGO. Acknowledgement: A. Brown, S. Jordan, T. Roegiers, X. Luria, E. Masana, T. Prusti and A. Moitinho
Hätte sich Aristarch von Samos durchgesetzt, hätte wohl auch das Christentum bereits das heliozentristische Weltbild vertreten.
Ich kann die – auf Youtube verfügbare – Arte-Dokuserie „Die Geburt des Christentums“ nur empfehlen. Wenn man mal zur Abwechslung etwas Lust auf Alt-Philologie hat 😉
Die Entstehung des Christentums geschah vor dem Hintergrund, dass die römische Gesellschaft aufgrund ihres technischen und auch wissenschaftlichen Fortschritts in einer intellektuellen Krise steckte – denn es war für die Mehrheit der Menschen zu offensichtlich, dass Opfergaben an einzelne Götter, die jeweils für einzelne Naturkräfte verantwortlich sein sollten, keine Wirkung entfalteten. Die abstrakte, weniger nahbare, universellere und mysteriösere Theologie des Judentums übte daher eine große philosophische Anziehungskraft auf die antike Gesellschaft aus. Kulturell und politsch waren die römische Gesellschaft und das Judentum aber antagonistisch zu einander. Als dann jedoch eine jüdische Sekte, die in Jesus den Messias sah, sich mit dem übrigen Judentum überwarf und sich in der Folge der römischen Gesellschaft öffnete, hatte diese eine Alternative zum ausgedienten Modell der antiken Götterwelt, die ja letztlich nur eine besonders komplexe Form von Naturgöttern war.
Das Christentum als Folge des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts – ganz anders als 1000 Jahre später, in der Renaissance.
In der Antike waren sieben Planeten bekannt. Die Sonne und der Mond wurden zu den Planeten gezählt.
Hat sich im geozentrischen Weltbild eigentlich die Erde gedreht? Wenn nicht, dann wäre das ja noch kurioser, da sich dann alle Sphären, einschließlich der der Fixsterne in wahnwitziger Geschwindigkeit gedreht haben sollen, nämlich an einen Tag ein mal rum.
Schlimmer noch die Geschwindigkeit wären nicht nur groß, sondern auch sehr ähnlich aber nicht gleich gewesen. Die Sphäre der Fixsterne hätte einen siderischen Tag benötigt, die der Sonne einen solaren Tag.
Außerdem leuchtet mir das Argument der fehlenden Parallaxe nicht so ganz ein. Zunächst einmal muss eine größere Entfernung der Sterne eine plausible Lösung gewesen sein, da die Messgenauigkeit nicht sehr groß war. Also hätte man nur eine untere Schranke an die Entfernung der Sterne gehabt in vielfachen des Abstands zur Sonne. Wenn man dagegen wirklich annimmt, dass die Sterne alle in gleicher Entfernung an einer Sphäre hängen, dann kann man auch bei nahen Sternen keine Verschiebung der Sterne gegeneinander feststellen.
Warum hat man eigentlich später die Sterne zur Messung der Parallaxe nicht besser ausgesucht? Möglichst hell und eine hohe Eigenbewegung. Dann hätte man vielleicht schon eher Erfolg haben können.
Eigentlich hat man die Parallaxe schon in der Antike gemessen und nur falsch interpretiert. Nicht von den Fixsternen natürlich, sondern von den Planeten, insbesondere Mars, Jupiter und Saturn. Die Parallaxe ist so groß, dass man sie leicht mit bloßem Auge erkennen kann. Leider wird sie durch die Umlaufbewegung überdeckt. Aber warum man dann auf die Epizyklen verfallen ist, obwohl man eine jährliche Parallaxe beobachtet hat, ist mir schleierhaft. Ich meine, es ist doch komisch, dass die Planeten alle zusätzlich zu ihrem mehrjährigen Umlauf noch eine kleinere Schleife drehen und das alle mit einem Jahr und um so kleiner, je weiter außen. Die Sonne und der Mond jedoch nicht. Oder?
Sehr schön. Ich würde nur nicht die Paralaxenmessung die erste Stufe der Leiter der kosmischen Abstandsmessung nennen. Schliesslich liefert die Abstände nur als vielfaches des Erdbahndurchmessers. Aber wie bestimmt man den nochmal, und was braucht man dafür?
Sehr gut finde ich das ihr die unterschiedlichen Charaktere gegeinandersetzt. Den genialen, rastlos mal schnell ausprobierenden und den pingeligen ‚Korinthenkacker‘ der jahrelang an einer Sache dran bleibt. Zu letzteren dürfte Tycho Brahe gehören (den ihr nicht erwähnt) der die Datengrundlage für Keplers Arbeit geliefert hat indem er über Jahre- ohne Teleskop! – Planetepositionen am Himmel vermessen hat. Und wenn man sich Florian Freistetter ‚Sternengeschichte‘ über Keplers ‚Neue astronomie‘ angehört hat war wohl auch Kepler jemand der Jahrzehnte mit diesem einen Problem gerungen hat.
Die trigonometrische Entfernungsbestimmung, das ist weitgehend Parallaxenmessung, *ist* die erste Stufe der kosmischen Abstandsmessung. Für Objekte außerhalb des Sonnensystems ist dabei die Basislinie für die Trigonometrie der Durchmesser der Erdbahn, das sind zwei astronomische Einheiten. Alle kosmischen Abstände können in dieser Einheit gemessen werden, dazu braucht man nicht zu wissen, wieviel das in Metern ist. Für die Größenverhältnisse im Kosmos hat man damit alle relevanten Informationen. Nur wenn man einen Vergleich mit den Größen innerhalb des Sonnensystems oder auf der Erde selbst braucht, ist es nötig, etwa den Erdradius in astronomischen Einheiten oder die astronomische Einheit in Metern auszudrücken. Und diverse Entfernungen innerhalb des Sonnensystems kann man auch per Parallaxe messen, wobei als Basislinie der Erdradius oder der Mondradius oder der Sonnenradius dienen können. Die Erdparallaxe aus der Sicht der Sonne ist der Winkel, unter dem der Sonnenradius von der Erde aus gesehen wird, das ist die Hälfte ihres Winkeldurchmessers von 0,45 Grad. Die Sonnenparallaxe aus der Sicht der Erde ist der Winkel, unter dem der Erdradius von der Sonne aus gesehen würde, das sind 8,8 Bogensekunden (kann von der Erde aus durch Anpeilen der Sonne von zwei weit entfernten Orten aus bestimmt werden). Beides kann benützt werden, um die astronomische Einheit in Metern zu berechnen, wenn man den Sonnen- oder den Erdradius kennt. Letzterer wurde schon von dem alten Griechen Eratosthenes mit einer anderen trigonometrischen Methode ziemlich genau bestimmt.
Ja die Bestimmung der Abstände im Sonnensystem und insbesondere zur Sonne kommt natürlich vorher.
Eine gute Ergänzung zu dieser Folge mit der Astrometrie und der Vergangenheit ist wohl dieser Review, in dem Erik Høg über seine astrometrische Forschung der letzten 70 Jahre erzählt.
https://arxiv.org/abs/2402.10996
Vielleicht wäre dies ja auch eine eigene Folge wert?
Das war eine schön erzählte Geschichte, die wichtige Etappen auf dem Weg zum heliozentrischen Weltbild aufgezeigt hat.
Allerdings fehlte mir am Ende eine Pointe, denn natürlich ist die Vermessung von Sternentfernungen mittels der Parallaxenmethode keineswegs ein Beweis dafür, dass die Erde sich um die Sonne dreht.
Und offensichtlich könnte man das heliozentrische Weltbild ebenso für falsch erklären wie das geozentrische, indem man etwa auf ein galaktozentrisches Weltbild verweist: die Sonne ruht ja nicht in unserer Milchstraße, sondern bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von 230 km/s auf einer Kreisbahn um deren Zentrum; die Erde bewegt sich als ihr Begleiter auf einer (verallgemeinerten) gestreckten Zykloidenbahn mit Geschwindigkeiten zwischen minimal 200 km/s und maximal 260 km/s (die genauen Werte hängen von der Orientierung der Bahnebene der Erde relativ zur Milchstraßenebene ab). Die Erdbahn ist damit nicht einmal geschlossen, denn die 30 km/s, mit denen die Erde um die Sonne tuckert, reichen natürlich nicht aus, um gegen die allgemeine „Strömungsgeschwindigkeit“ von 230 km/s anzuschwimmen und wieder an einen früheren Ort zurückzukehren — das gelingt (eventuell!) erst nach einem Umrunden der ganzen Galaxis, also nach rund 250 Millionen Jahren.
Aber ich sollte meine Kommentare am besten in zwei Teilen anbieten.
Im ersten möchte ich das Prinzip der Parallaxenmethode etwas genauer darstellen, als es im Podcast geschah. Die Erfahrung des „springenden“ Daumens beim Wechsel der Betrachtung zwischen den beiden Augen ist ganz hübsch zur Einführung, aber wie man daraus eine Messung machen kann, ist auch interessant. Der Hintergrund kann, wenn es ums Prinzip der Methode geht, ganz weggelassen werden, wird aber bei der praktischen Umsetzung doch wichtig, allerdings nur für die sogenannte statische Parallaxe. Bessel hat ja, was im Podcast nicht erwähnt wurde, schon 1812, also 26 Jahre vor seiner erfolgreichen Bestimmung der statischen Parallaxe, die Entfernung desselben Sterns (61 Cygni, also ein Stern im Sternbild des Schwans) mithilfe der sogenannten dynamischen Parallaxe ermittelt. Dazu komme ich später.
Ein Punkt, auf den ich auch eingehen möchte, ist, wie Bradley und Molyneux ihre Messungen durchführten, und wieso die Aberration, die Bradley statt der Parallaxe maß, kein Problem für Bessels Messungen eines viel kleineren Effekts bedeutete. Und Bradley hätte die Aberration nicht gefunden, wenn er die gleiche Messmethode wie Bessel verwendet hätte.
Im zweiten Teil des Kommentars will ich dann auf die Frage eingehen, welche Art von Bewegungen man mit der statischen Parallaxe nachweisen kann oder auch nicht. Das ist der philosophisch-metaphysische Teil. Kann man sich auch sparen, wenn einen nicht interessiert, dass, wer glaubt, es sei richtig, dass die Erde sich um die Sonne dreht, und falsch, dass die Sonne sich um die Erde dreht, eigentlich noch in der Vorstellung eines absoluten Raums im Sinne Newtons verhaftet ist, der aber nicht viel entspricht, was man sinnvoll als „real“ bezeichnen könnte.
Fangen wir mit Teil eins an. Die Parallaxenmethode basiert auf simpler Trigonometrie. Man bestimmt von zwei Endpunkten einer (geraden) Basislinie aus die Richtung, in der ein punktförmiges entferntes Objekt zu sehen ist. Als Richtung dient hier der Winkel, den die Sichtlinie zum Objekt mit der Basislinie bildet. Die Messung liefert also zwei Winkel, die an der Basislinie anliegen. Damit hat man genügend Bestimmungsstücke (wie man aus der Schule vielleicht noch weiß: zwei Dreiecke sind kongruent, wenn sie in einer Seite und den beiden anliegenden Winkeln übereinstimmen), um das Dreieck zu berechnen, das aus den Endpunkten der Basislinie und dem Ort des Objekts gebildet wird. Die längste Basislinie, die vor dem Zeitalter der Raumfahrt zur Verfügung stand, ist die von einem Punkt der Erdbahn zum gegenüberliegenden Punkt auf der anderen Seite der Sonne, also dort, wo die Erde ein halbes Jahr später stehen wird. Die Länge dieser Linie beträgt zwei astronomische Einheiten, etwas mehr als 16 Lichtminuten.
Das Prinzip der Messung der Entfernung eines Sternes ist nun einfach: man messe den Winkel, in den man sein Fernrohr ausrichten muss, zur gedachten Verbindungslinie des Erdmittelpunkts mit seiner Position ein halbes Jahr später, wiederhole die Messung nach einem halben Jahr, bestimme dann den dritten Winkel des Dreiecks, an seiner Spitze, also dort wo der Stern ist (180 Grad minus die Summe der beiden anderen Innenwinkel des Dreiecks) und verwende dann (zum Beispiel) den Sinussatz, um die Seitenlängen des Dreiecks von den beiden Erdpositionen zum Stern zu berechnen. Ein wesentliches Problem ist dabei, dass der Winkel an der Spitze für alle Sterne (außerhalb des Sonnensystems) weniger als eine Bogensekunde beträgt. Wenn der Stern bei der Messung im Zenit steht, sind die beiden anderen Winkel also praktisch 90 Grad, allgemein ist ihre Summe von 180 Grad kaum zu unterscheiden. Da man bei beiden Messungen sein Teleskop möglichst in die gleiche Richtung stellen will, wird man einmal den Innenwinkel an der Basis des Dreiecks messen und einmal den Außenwinkel. Die beiden sind praktisch gleich und ihre (winzige) Differenz entspricht dem Winkel an der Spitze des Dreiecks. Eine direkte *genaue* Messung der beiden Basiswinkel ist extrem schwierig, denn wie kann man die Richtungsänderung zwischen der Ausrichtung eines Fernrohrs zu Zeitpunkten, die ein halbes Jahr auseinanderliegen, auf weniger als eine Bogensekunde genau bestimmen, wenn in der Zwischenzeit die Orientierung der Erdoberfläche, auf der das Fernrohr steht, sich aufgrund der Erddrehung um viele Grad hin und her geändert hat?
Nun, man kann erstmal damit anfangen, das Teleskop von einem Tag auf den nächsten sauber auszurichten. Wenn ich ein Teleskop zu einer bestimmten Nachtzeit auf einen festen Punkt (z.B. einen bestimmten Stern) ausrichte und es dann nicht mehr anfasse, dann wird es doch bestimmt am nächsten Tag zur gleichen (Nacht-)Zeit wieder in die gleiche Richtung zeigen? Richtig, wenn wir davon ausgehen, dass die Erde praktisch ein Kreisel mit fester Orientierung ihrer Achse im Weltall ist. (Dabei vernachlässigen wir, dass die Erdachse eine Präzessionsbewegung durchführt, die in ca. 26000 Jahren einen Zyklus durchläuft. Das kann man auf der Skala eines Tages oder auch eines Jahres wirklich vergessen.) Aber die genaue Ausrichtung des Fernrohrs parallel zu der am Vortag passiert nicht nach 24 Stunden, der Dauer eines solaren Tages. Alle 24 Stunden steht die *Sonne* in derselben Richtung. Der siderische Tag, d.h. die Zeit, bis zu der ein *Stern* wieder in derselben Richtung auftaucht, ist nur 23 Stunden 56 Minuten lang. Ein Jahr hat rund 365 Tage, aber der Sternenhimmel dreht sich in der Zeit 366 mal um die Erde. (Man kann sich den Effekt an zwei gleichen Münzen klarmachen, die man auf den Tisch legt, so dass sie sich berühren. Lässt man nun die eine um die andere rollen, so wird sie sich während eines Umlaufs zweimal um sich selbst drehen. Das kann man an den Zahlen sehen, die zweimal auf dem Kopf stehen. Lässt man die umlaufende Münze nicht rollen, sondern gleiten, so dass sie immer mit derselben Seite zur anderen Münze zeigt, dreht sie sich pro Umlauf nur einmal um sich. Die Erde dreht sich auf ihrer Bahn um die Sonne auch um sich selbst, was bedeutet, dass sie pro Umlauf eine Drehung mehr gegenüber dem Sternenhimmel macht als gegenüber der Sonne.) Man muss also *sehr genau* die Zeit messen, wenn man sich der exakten Ausrichtung seines Fernrohrs gewiss sein will. Innerhalb eines halben Jahres verschiebt sich diese Zeit im Tag um 12 Stunden, wenn man also Parallaxen über ein halbes Jahr messen will, könnte man z.B. einen Stern auswählen, der etwa im Sommer um vier Uhr morgens im Zenit steht, da ist die Sonne gerade noch nicht aufgegangen; er wird dann ein halbes Jahr später im Winter um vier Uhr nachmittags wieder im Zenit stehen, da ist die Sonne gerade untergegangen. Man sollte jedenfalls nicht die Beobachtungszeit im Sommer so wählen, dass zwölf Stunden früher im Winter Tag ist, denn dann sieht man den Stern im Winter nicht in der gewünschten ungefähren Richtung.
Diese Ausrichterei klang im Podcast andeutungsweise an, als davon die Rede war, dass die Astronomen Löcher in ihre Häuser machten, durch die dann die Fernrohre rausguckten. Und zwar war es bei den angestrebten Parallaxenmessungen von Bradley und Molyneux im 18. Jahrhundert so, dass sie ihr Fernrohr senkrecht stellten, es war also ein Zenitteleskop; die Ausrichtung wurde mithilfe eines Lots bewerkstelligt, indem das Okular unten am Fernrohr genau senkrecht und mittig unter das Objektiv gebracht wurde, das oben durch das Loch (durch das das Fernrohr gerade passte) an seinem Platz gehalten wurde. Unten konnte mittels einer Schraube (deren Ganghöhe bekannt war), das Okular ein wenig verschoben werden. Wenn wir annehmen, dass das Fernrohr 2m lang war (es hatte eine Brennweite von 1,8m) und mit der Schraube durch eine messbare Umdrehung das Okular um 0,1mm aus der senkrechten Ausrichtung unter dem Objektiv verschoben werden konnte, dann wäre das ein Winkel von im Bogenmaß 0,1mm/2000mm = 0,00005, das entspricht (180/π)*3600*0,00005=10,1 Bogensekunden. Winkeländerungen in dieser Größenordung konnten mit dem Teleskop also gemessen werden (tatsächlich wurde sogar eine Genauigkeit von einer Bogensekunde erreicht), allerdings im Abstand von einem halben Jahr nur, wenn die parallele Ausrichtung des Teleskops mit dieser Genauigkeit oder besser garantiert war. Dazu aber musste man die Zeit genau kennen, zu der der Stern sich nach einem halben Jahr wieder im Zentrum des Objektivs befinden sollte (ohne Parallaxe, durch Verschieben des Okulars hätte man den Stern bei einer kleinen Abweichung vom Zentrum wieder in die Mitte bringen können; der dazu benötigte Kippwinkel wäre dann dem spitzen Winkel im zu bestimmenden Dreieck an der Position des Sterns gleich gewesen). Für die Entfernungsbestimmung braucht man auch die Winkel, die das Teleskop mit der Verbindungslinie der beiden Erdpositionen einnimmt, aber da genügt eine Messgenauigkeit von einem Grad oder so, denn dieser Winkel geht über einen Sinusfaktor in die Entfernung ein, ein Fehler von ein paar Prozent gibt auch nur einen vergleichbaren Fehler in der Entfernung. Der (sehr spitze) Parallaxenwinkel tritt im Wesentlichen mit seinem Kehrwert auf; wenn er um ein Grad falsch wäre, dann entspräche das einem Fehler von mehr als 360000 Prozent. Und um einen Faktor dieser Größenordnung wäre auch die Entfernungsmessung falsch…
Nun maßen Bradley und Molyneux mit dieser Art von Anordnung aber nicht die Parallaxe eines Sterns (die dazu benötigte Genauigkeit von besser als einer Bogensekunde erreichten sie ohnehin nicht) sondern sie maßen täglich eine kleine Verschiebung ihres ausgesuchten Sterns (γ Draconis), der sich am Himmel auf einer kleinen Kreisbahn zu bewegen schien, mit einem Öffnungswinkel des Sichtkegels von ca. 20 Bogensekunden. Das heißt, nach einem halben Jahr hatte sich die Blickrichtung zum Stern um 40 Bogensekunden geändert. Vermutlich hat die Tatsache, dass sie die täglichen kleinen Änderungen maßen und nicht ein halbes Jahr zwischen zwei Messungen warteten, die Genauigkeit erhöht, mit der das Teleskop nach über 180 Tagen immer noch den Grad an Parallelität zu seiner Ausgangsposition feststellen konnte. Dass das gelang, finde ich immer noch beeindruckend. (Wobei es bei der ersten Messung 1725 nicht wirklich gelang. Das Teleskop hatte ein zu kleines Sichtfeld, der Stern wanderte innerhalb des halben Jahres aus diesem heraus. Bradley wiederholte die Messungen später mit einem besseren Gerät.)
Bradley erklärte die Verschiebung des Sichtwinkels, unter dem der Stern erschien, 1727 korrekt mit der Änderung der Bewegung der Erde und der Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit. (Molyneux war kurz vorher verstorben.) Wenn der Lichtstrahl von dem beobachteten Stern aus einer bestimmten Richtung in das Sonnensystem einfällt (die relativ zu einem Bezugssystem, in dem die Sonne ruht, fest ist), dann wird seine Richtung im Bezugssystem der Erde, die dauernd ihre Geschwindigkeit ändert (weil sie um die Sonne kreist) variieren. Die Lichtgeschwindigkeit relativ zur Erde ändert sich entsprechend dem relativistischen Additionstheorem für Geschwindigkeiten, allerdings nicht dem Betrag nach (der ist im Vakuum konstant, „speed of light“) sondern nur in der Richtung („velocity of light“). Natürlich kannte Bradley noch keine Relativitätstheorie, aber für die Berechnung der Änderung der Richtung eines Lichtstrahls beim Wechsel zwischen zwei Bezugssystemen mit verschiedenen Geschwindigkeiten ist die Newtonsche Theorie genau genug, wenn die Relativgeschwindigkeit der beiden Bezugssysteme klein gegen die Lichtgeschwindigkeit ist.
Man könnte die Messung der Aberration schon als einen Beweis für die Bewegung der Erde um die Sonne betrachten. Und so wurde das wohl auch damals schon gesehen. Aber natürlich würde eine Bewegung des Sterns in einer passenden kreisähnlichen Bahn um die Erde, die mit der Sonnenbewegung eben um jene 4 Minuten täglich „außer Phase“ gerät, genau denselben Aberrationseffekt hervorrufen.
Bradley hatte also nicht genügend Genauigkeit, um Sternparallaxen zu messen, die grundsätzlich kleiner sind als eine Bogensekunde. Aber selbst wenn er sie gehabt hätte, wäre die Parallaxenmessung vielleicht misslungen, weil der Aberrationseffekt ja viel größer ist. Wie hätte er unter der Bewegung um 20 Bogensekunden die Parallaxe von ca. 0,02 Bogensekunden finden sollen, die bei einer Entfernung von ca. 150 Lichtjahren (soweit ist es bis zu γ Draconis) zu erwarten ist?
Zu Bessels Zeiten gab es nicht nur bessere Teleskope, sondern er wandte (wie seine Konkurrenten Struve und Henderson) auch einen Trick an, der nicht nur die genaue Ausrichtung des Teleskops über längere Zeiträume unnötig machte, sondern auch die Aberration unterdrückte, also die direkte Parallaxenmessung erlaubte. Um den Trick zu verstehen, ist es nützlich, sich nochmal das Beispiel des „springenden Daumens“ ins Gedächtnis zu rufen. Warum verschiebt sich der Daumen vor dem Hintergrund? Der Hintergrund ist weiter weg, eine Struktur im Hintergrund erfährt eine kleinere Winkeländerung, wenn die Betrachtung von einem Auge auf das andere wechselt, als der Daumen im Vordergrund. Dadurch verschiebt sich der Daumen optisch gegenüber der Struktur. (Bei einem homogenen Hintergrund würde man die Bewegung des Daumens unter Umständen nicht sehen.) Nun, ein analoger Effekt muss auch für die Parallaxe eines Sterns gelten. Wenn man gleichzeits zwei Sterne ins Teleskop bekommt, von denen einer sehr viel weiter entfernt ist als der andere, kann man die Parallaxe des letzteren durch die Änderung des Sichtwinkels zwischen beiden bestimmen, wenn man annehmen darf, dass die Parallaxe des weiter entfernten Sterns null ist (weil sie viel kleiner ist als die Messgenauigkeit). Man hat dann zu beiden Zeitpunkten zwei Sterne im Blick. Die Richtung zum weiter entfernten, dessen Position am Himmel unverändert bleibt (abgesehen natürlich von der nächtlichen Wanderung über das Himmelsgewölbe) legt gewissermaßen die Parallelität des Fernrohrs bei beiden Messungen fest, die Richtung des näheren ändert sich zwischen den beiden Beobachtungen und die Gesamtänderung liefert die Parallaxe (eigentlich die Differenz der Parallaxen zwischen nahem und fernem Stern, aber die des fernen soll ja praktisch null sein). Tatsächlich macht es nicht mal was aus, wenn die beiden Sterne nicht zur richtigen Zeit beobachtet werden, also das Fernrohr nach einem halben Jahr in eine etwas andere Richtung weist. Denn die entsprechende Drehung der Blickrichtung machen beide Sterne mit, die im Teleskop zu sehen sind, d.h. die winzige Winkeldifferenz zwischen ihnen bleibt gegenüber dem Fall exakter Parallelität unverändert. Und die Aberration hat keinen Einfluss auf die Messung, weil sie überhaupt nicht von der Entfernung der Sterne abhängt, sie ist ja durch Geschwindigkeitsänderungen bestimmt und für die beiden Sterne im Objektiv genau gleich. Das bedeutet, dass sie den Winkel zwischen den Positionen der beiden Sterne nicht beeinflusst.
Die Methode, mit der der winzige Winkel zwischen den beiden Sternen gemessen wurde, ist ziemlich genial. Das Objektiv des Heliometers, das war das (von Fraunhofer gebaute) Teleskop, mit dem Bessel seine Messungen in Königsberg machte, eigentlich eine kreisförmige Linse, bestand aus zwei gegeneinander verschiebbaren halbkreisförmigen Teilen; die gerade Trennlinie zwischen beiden konnte man beim Blick durch das Teleskop sehen. Hatte man nun die beiden Sterne im Ojbjektiv, dann wurde das Teleskop um seine Mittelachse so lange gedreht, bis die sichtbare Trennlinie durch die Bildpunkte der beiden Sterne ging. Das Bild besteht dann also aus 4 Halbpunkten, von denen je zwei zu einem Stern gehörende an den Enden einer Strecke sind, die genau auf der Trennlinie liegt. Nun wird eine der beiden Objektivhälften durch Kurbeln an einer Mikrometerschraube verschoben. Damit werden aus der Strecke mit vier Halbpunkten zwei gleichlange Strecken zwischen je zwei Halbpunkten. Die vier Halbpunkte liegen längs einer Linie und man verschiebt die Hälfte des Objektivs solange, bis die zwei inneren „aufeinander“ liegen, d.h. die beiden Teilstrecken liegen nun direkt aneinander (die Gesamtstrecke ist doppelt so groß wie zu Anfang) und die beiden zur Deckung gebrachten mittleren Halbpunkte entsprechen Bildern der beiden Sterne. Die Verschiebung, die dafür benötigt wurde, kann von der Mikrometerschraube abgelesen werden und aus ihr kann man offensichtlich den Winkel zwischen den beiden Sternbildern berechnen, wenn man die Länge des Teleskops bzw. die Brennweiten von Objektiv (2,6 m) und Okular kennt. An der Schraubentrommel der Mikrometerschraube war eine tausendstel Umdrehung ablesbar. Eine volle Umdrehung entsprach einem Winkel von 52 Bogensekunden, man konnte also Winkelabstände von etwa 0,05 Bogensekunden noch sicher bestimmen. Bessel fand für 61 Cygni einen Wert der Parallaxe von 0,314 Bogensekunden, entsprechend 10,4 Lichtjahren. Die modernen Werte sind 0,292 Bogensekunden bzw. 11,4 Lichtjahre. Ich stelle mir die Messungen nicht ganz einfach vor, denn die Mikrometerschraube befand sich ja am Objektiv und das Zur-Deckung-Bringen der beiden Sternhalbbilder erfordert, dass man durch das Okular schaut, das mehr als 2,6 m vom Objektiv entfernt war. Das Drehen an der Mikrometerschraube während der Beobachtung durch das Okular musste also wohl mithilfe eines Gestänges oder eines Riemens durchgeführt werden. Zum genauen Ablesen des Nonius, mit dem noch eine Tausendstel Umdrehung messbar war, musste Bessel sich nach dem Justieren der Halblinsenverschiebung dann aber sicher doch zum entfernten Objektiv begeben, also vielleicht eine Leiter hochsteigen…
Henderson, ein schottischer Astronom, hatte zwar schon deutlich früher (nämlich 1832) als Bessel erste Messergebnisse, die er in Südafrika erhielt. Nach seiner Rückkehr (1833 oder 1834) ins Vereinigte Königreich ermittelte er aus seinen Daten eine Entfernung des α Centauri von 3,25 Lichtjahren (etwa 25% zu gering). Er war sich allerdings unsicher über die Genauigkeit dieser ersten Bestimmung einer statischen stellaren Parallaxe und zögerte mit der Veröffentlichung (es hatte vorausgehende Versuche der Parallaxenmessung gegeben, die wegen schlechter Datenlage in Verruf geraten waren). So publizierte er erst einige Monate nach Bessel, der aus einer Messreihe von ca. 3000 Einzelmessungen die Entfernung von 61 Cygni zu 10,4 Lichtjahren bestimmte (etwa 8,8% zu gering). Damit erhielt Bessel die Priorität, denn auch Struve veröffentlichte ”finalisierte“ Messergebnisse zur Entfernung der Wega erst nach Bessel (und überdies scheint sein endgültiges Ergebnis schlechter gewesen zu sein als ein vorläufiges aus dem Jahr 1837). Struve hatte auch Pech, dass er sich mit der Wega den am weitesten entfernten Stern ausgesucht hatte (Entfernung ca. 25 Lichtjahre), also eine sehr kleine Parallaxe von 0,13 Bogensekunden messen musste, was zu größeren Ungenauigkeiten führte. Struve machte seine Messungen in St. Petersburg, mit einem Teleskop, das auch Fraunhofer gebaut hatte. (Und es gibt auch Struve-Funktionen, aber die sind weniger bekannt als die Besselfunktionen, wie auch Struve weniger bekannt sein dürfte als Bessel…)
Wie wir gesehen haben, benötigt man zwei am Himmel nahe beieinander stehende Sterne, von denen der eine nahe genug ist, um eine Parallaxe zu haben, die man noch messen kann, und der andere sehr viel weiter weg sein sollte. Auf welche Weise findet man nun solche Sternpaare, wenn man ihre Entfernungen noch gar nicht kennt? Woher kann man wissen, dass einer der Sterne viel weiter weg ist als der andere. Das wurde im Podcast durchaus gesagt (Sterne mit hoher Eigenbewegung sind in der Regel näher als solche mit geringer Eigenbewegung), aber damit ist auch noch eine Geschichte verbunden, die interessant ist.
Zuerst nahm man einfach an, dass alle Sterne absolut etwa gleich hell sind. Dann müssen hellere näher und weniger helle weiter weg sein. Das stellte sich allerdings als falsch heraus. Es gab am Himmel nah beieinander stehende Sterne sehr unterschiedlicher Helligkeit, die gemeinsame Eigenbewegungen durchführten. W. Herschel erkannte, dass dies gravitativ gebundene Systeme von Doppelsternen waren. Das Bestreben, Sternparallaxen zu bestimmen, hat also zu mindestens zwei weiteren wissenschaftlichen Entdeckungen geführt, nämlich der der Aberration und der von Doppelsternen (mehr als die Hälfte aller Sternsysteme sind Doppel- oder Mehrfachsternsysteme).
Damit ergab sich nun die Möglichkeit der *dynamischen* Parallaxenbestimmung. Kennt man den Winkelabstand zweier nahe beieinander stehender Sterne und ihren Abstand zueinander senkrecht zur Beobachtungsrichtung, so kann man daraus ihre Entfernung bestimmen. Sind sie gravitativ gebunden, lässt sich der Abstand der Sterne voneinander aus ihrer Umlaufzeit und, mithilfe des dritten keplerschen Gesetzes, ihren Massen bestimmen. Bessel hatte für 61 Cygni und seinen Begleiter Daten von Bradley aus der Zeit von 1750 bis 1762 zur Verfügung, und stellte fest, dass die Verbindungslinie der beiden Sterne am Himmel (die einander umkreisten) in seinen eigenen Messungen (1812 und früher) um sechzig Grad (!) gegenüber der von Bradley festgestellten Richtung gedreht war. Daraus schloss er, dass die beiden Sterne eine Umlaufzeit von ca. 350 Jahren haben mussten (sie hatten in knapp sechzig Jahren 60 von 360 Grad ihres Umlaufs geschafft). Die Massen hat er wahrscheinlich geschätzt (z.B. auf je eine Sonnenmasse :-)) und erhielt damit den wahren Abstand der beiden Sterne. Den Winkel zwischen ihnen am Himmel konnte er im Prinzip an einem Tag bestimmen (vermutlich noch nicht mit dem Heliometer, das er 26 Jahre später benutzte). Damit hatte er die Basislinie (die die beiden Sterne verband) und den spitzen Winkel an der Ecke des Dreiecks, die auf der Erde lag. Mit einer Vorstellung über die Lage der Bahnellipse der beiden Sterne konnte er auch die Basiswinkel (an den Sternorten) bestimmen und der Rest ist Trigonometrie. Das Ergebnis der dynamischen Parallaxenmessung und das der späteren statischen Parallaxenmessung lagen für 61 Cygni nahe beieinander, was sicher sehr zufriedenstellend für Bessel war.
Nun komme ich zu dem Grund, warum eine Parallaxenmessung nichts über die Frage aussagen kann, ob die Erde sich in einem halben Jahr um 2 astronomische Einheiten bewegt oder ob der beobachtete Stern (ebenso wie der weit entfernte Referenzstern) sich im selben Zeitraum um diese Strecke in genau die entgegengesetzte Richtung bewegt. Im ersten Fall macht man effektiv eine statische Parallaxenmessung, d.h. die Basislinie des Dreiecks, dessen lange Seiten die Entfernung zum Stern liefern, liegt im Sonnensystem und verbindet zwei Positionen der Erde. Der spitze Winkel des Dreiecks liegt beim Stern und sein Wert ist, bis auf einen von den Basiswinkeln abhängenden trigonometrischen Faktor, gleich dem doppelten Parallaxenwinkel. Im zweiten Fall, also wenn die Erde ruht und der Stern sich um zwei astronomische Einheiten bewegt, macht man effektiv eine dynamische Parallaxenmessung. Den Referenzstern braucht man trotzdem, weil die Messung nicht den Winkelabstand zweier *verschiedener* Sterne zu *einem* Zeitpunkt bestimmt sondern den Winkelabstand der Positionen *eines* sich bewegenden Sterns zu zwei *verschiedenen* (um ein halbes Jahr auseinander liegenden) Zeitpunkten. Man braucht im Gesichtsfeld des Teleskops halt immer gleichzeitig zwei Sterne für die Messung. Nun verbindet die Basislinie mit der Länge zwei astronomische Einheiten die zwei Positionen des Sterns und der spitze Winkel des Dreiecks liegt auf der — ruhenden — Erde. Das Dreieck, das man auf diese Weise ausmisst, ist kongruent zu dem im Fall einer bewegten Erde bei der statischen Parallaxenmessung verwendeten. Kann man durch Beobachtungen auf der Erde feststellen, ob man mit dem Messverfahren eine statische oder eine dynamische Parallaxenmessung durchgeführt hat? Ich sehe nicht, wie. Im zweiten Kommentar (falls ich den noch schreibe) werde ich argumentieren, dass es unmöglich ist.
Der einzige Aspekt des ptolemäischen Weltbilds, den Parallaxenmessungen von Sternentfernungen widerlegen, ist die Idee, dass die Sterne sich alle in derselben Entfernung von der Erde auf einer Kugelschale befinden. Das tun sie natürlich nicht. Wenn man aber die Sterne gemäß ihren tatsächlichen Entfernungen von der Erde im Volumen verteilt, dann sind die Parallaxenmessungen durchaus mit „epizyklischen“ Bewegungen der Sterne um die Erde (also einem geozentrischen Weltbild) verträglich, bei der einer Kreisbahn mit einer Umlaufszeit von 23 Stunden 56 Minuten (und einem Radius von Lichtjahren…) eine jährliche Kreisbewegung mit einem Radius von einer astronomischen Einheit überlagert ist.
Warum das heliozentrische Weltbild vorzuziehen ist, dazu komme ich in meinem anderen Kommentar. Dass es vorzuziehen ist, heißt aber nicht, dass es der „Wirklichkeit“ entspricht und eine geozentrische Beschreibung falsch wäre.
Im Podcast wurde angedeutet, wie mutig man zu Galileis Zeiten oder früher sein musste, wenn man entgegen der kirchlich sanktionierten herrschenden Lehrmeinung die Ansicht vertrat, dass die Erde um die Sonne kreiste. Galileo Galilei musste widerrufen und Giordano Bruno wurde verbrannt (allerdings nicht wegen seiner kopernikanischen Kosmologie sondern wegen anderer „ketzerischer“ Lehren). Kopernikus selbst allerdings veröffentlichte seine Ideen erst im Jahr seines Todes und musste die Inquisition nicht mehr fürchten.
Heutzutage wird man nicht als zu bestrafender Häretiker betrachtet, wenn man ein geozentrisches Weltbild vertritt, sondern einfach als Spinner. Die Heliozentriker glauben, es besser zu wissen.
Es gibt aber eine klarere Sicht der Dinge. Es muss Anfang der 1980er Jahre gewesen sein, dass ich Roman Sexl begegnet bin, der damals an der Ulmer Universität im physikalischen Kolloquium vortrug. (Ich war ein junger Doktorand.) Nach dem Kolloquium gab es immer eine Nachsitzung in der Mensa. Bei der kam ich mit Sexl ins Gespräch. Er war bekannt für seine großartigen Beiträge zur Lehre in der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie (er hat z.B. zusammen mit seiner Frau ein Buch „Weiße Zwerge – Schwarze Löcher“ geschrieben und die weiterführenden Kommentare in „Mr. Tompkins seltsame Reisen durch Kosmos und Mikrokosmos“ von George Gamov sind ebenfalls von Roman Sexl). Zu der Zeit beschäftigte er sich unter anderem mit der Frage, wie gesichert unser Wissen über Raum und Zeit ist, bzw. was daran Wissen und was Konvention ist. Er starb im Jahr 1986, mit 46 Jahren zu jung. Meine damalige Begegnung mit ihm war also schon die letzte.
Ein Thema unseres Gesprächs war, wie wir wissen könnten, dass die Erde sich um die Sonne bewegt und nicht umgekehrt, oder auch, wieso wir meinen, auf der Oberfläche einer Kugel zu wohnen und nicht im Innern einer Hohlkugel. Wir waren uns relativ bald einig, dass die Mathematik jeweils keine Entscheidung zwischen den beiden Fällen zulässt. Denn wenn ich eine Beschreibung der physikalischen Welt in einem Bezugssystem habe, in dem die Sonne ruht und die Erde um sie kreist und sich dabei dreht, dann kann ich daraus durch Transformation auf ein mit der Erde fest verbundenes mitrotierendes Bezugssystem eine Beschreibung gewinnen, in der die Erde in Ruhe ist und das Universum sich um sie dreht. Alle physikalischen Experimente, die ich im heliozentrischen Bezugssystem korrekt beschreiben kann, kann ich mithilfe der mathematischen Transformation auf ein geozentrisches Bezugssystem umschreiben, und beide Beschreibungen werden dieselben physikalischen Resultate liefern. Das gilt natürlich auch für Parallaxenmessungen. Wenn das betrachtete geozentrische System die korrekte mathematische Transformation des heliozentrischen ist (also die Sterne nicht wie bei Ptolemäus auf einer Kugelschale sitzen sondern im Volumen entsprechend ihren richtigen Entfernungen von der Sonne verteilt sind), dann erhält man im geozentrischen Koordinatensystem natürlich keine anderen Voraussagen für konkrete Messergebnisse als im heliozentrischen. (Im Fall der Hohlwelt ist die mathematische Transformation einfach eine Inversion an der Kugeloberfläche, die innen und außen vertauscht. Mit dem Fall will ich mich im folgenden aber nicht ausführlich beschäftigen.) In welchem Sinn kann man dann behaupten, die Beschreibung, auf der das heliozentrische Weltbild beruht, sei „richtiger“ oder entspräche der „Wirklichkeit“?
Mein Versuch der Rechtfertigung des bevorzugten Weltbilds bestand darin, dass es eine einfachere Beschreibung liefert. Woraufhin Sexl entgegnete, dass Einfachheit im Auge des Betrachters liege. Zweifellos kam den alten Griechen das ptolemäische Weltbild einfacher vor als das der wenigen Heliozentriker. Spätestens seit Kepler und Newton kommt uns das kopernikanische Weltbild einfacher vor, weil wir ein einfaches dynamisches Gesetz haben, mit dem es begründbar ist. Allerdings nicht völlig genau, d.h., Newtons Gesetze reichen nicht, um etwa die vollständige Periheldrehung der Merkurbahn zu erklären, und das Naturgesetz, das das schließlich tut, die einsteinschen Feldgleichungen, ist längst nicht mehr so einfach.
Sexl meinte, dass die Bevorzugung einer der Beschreibungen mithilfe von *Symmetrien* begründet werden könne. Zum Beispiel hat Newtons Kraftgesetz in Inertialsystemen überall dieselbe Form, in einem rotierenden Bezugssystem ändert es sich von Ort zu Ort, weil die Zentrifugalkraft (und ggf. die Corioliskraft) nicht überall gleich sind. Der Raum ist homogen, d.h. er hat Translationssymmetrie, im Inertialsystem (alle lokalen Naturgesetze sind ortsunabhängig), er wird inhomogen in einem rotierenden System (und extrem inhomogen bei Inversion an einer Kugeloberfläche, das Kraftgesetz und auch die Lichtausbreitung nehmen sehr kontraintuitive Formen an).
Das führt zu einer physikalischen Unterscheidungsmöglichkeit für Bewegungszustände und die Erdrotation wird dann einfach mit einem foucaultschen Pendel auf der Erde direkt „bewiesen“ (aber es gibt noch Einwände!). Damit wäre dann gezeigt, dass die Sonne sich nicht 366 mal im Jahr um die Erde dreht (die Erde macht ja pro Jahr 366 Umdrehungen gegenüber dem Sternenhimmel); da sie sich nur 365mal um sie herum zu bewegen scheint, bleibt noch die eine Umdrehung zu klären, die entweder vom Umlauf der Erde um die Sonne oder vom Umlauf der Sonne um die Erde (in entgegengesetzter Richtung) kommen kann. Das heißt, selbst wenn man die Rotation der Erde konzediert, führt das noch nicht zu einer Entscheidung zwischen heliozentrischer und geozentrischer Betrachtung. Zur Unterstützung des heliozentrischen Weltbilds könnte man hier das sexlsche Symmetrieargument anführen: im heliozentrischen Bild hat das Naturgesetz, das die Planeten auf ihren Bahnen hält, für alle dieselbe Form und führt für alle zu ähnlichen charakteristischen Bahnen. Im geozentrischen Bild unterscheiden sich die Bahn der Sonne um die Erde und die Bahnen der Planeten. Das Gravitationsgesetz enthält zusätzliche Terme (die bei der Transformation des bekannten Gesetzes auf ein um die Sonne umlaufendes Bezugssystem entstehen, in dem die Erde ruht).
Die Idee, dass die Physik uns erlaubt, bestimmte Bewegungszustände eindeutig zu identifizieren, ist eng verknüpft mit Newtons Vorstellung eines absoluten Raumes. Als Beleg dafür ersann er sein berühmtes Eimerexperiment: Ein mit Wasser gefüllter Eimer wird in gleichförmige Rotation versetzt. Nachdem sich die Wasseroberfläche wieder beruhigt hat, wird das Wasser relativ zum Eimer in Ruhe sein, aber seine Oberfläche ist parabolisch, nicht eben; am Eimerrand steht das Wasser höher als in der Mitte, wo die Drehachse ist. Nach Newton ist für die Krümmung der Oberfläche die Rotation im absoluten Raum verantwortlich, denn relativ zum Eimer rotiert das Wasser ja nicht. Diese absolute Rotation kann durch Ausmessung der Krümmung der parabolischen Oberfläche gemessen werden. Auch andere *beschleunigte* Bewegungen sind durch Messungen am oder im beschleunigenden Objekt messbar. Trotzdem ist Newtons Raum nicht so absolut, wie er das gerne gehabt hätte: weder Orte noch konstante Geschwindigkeiten im Raum sind experimentell eindeutig festlegbar. Das heißt, die Physik liefert keine Handhabe festzustellen, ob ein Himmelskörper seinen Ort verändert oder nicht, solange die hypothetische Ortsveränderung keine beschleunigten Bewegungen beinhaltet.
Darüber hinaus hat Ernst Mach die Aussagekräftigkeit des Eimerexperiments angegriffen. Er argumentierte, dass niemand wisse, wie das Eimerexperiment in einem bis auf den Eimer leeren Universum ausginge. Vielleicht bliebe dort die Wasseroberfläche flach. Dann wäre ihre Krümmung in unserem Universum eine Folge von (Trägheits-)Kräften, die die relative Rotation der Massen aller Fixsterne um die Position des Eimers erzeugt. Damit wären auch Rotationsbewegungen nicht absolut sondern relativ. Und wir könnten nicht behaupten, dass die Erde sich absolut um ihre Achse dreht. Es könnte stattdessen auch das Universum sich um die Erde drehen. Die Frage wäre nicht entscheidbar. Nun hat die newtonsche Theorie keinen Mechanismus, durch den etwa eine kugelsymmetrische Massenschale, die starr um Körper rotiert, auf diesen Kräfte ausüben könnte. Die Gravitationswirkung im Innern einer solchen Schale ist null. Allerdings nicht mehr bei Einstein.
Einstein war ursprünglich von Machs Idee fasziniert, dass der Raum erst durch die Gegenwart von materiellen Körpern entsteht und dass räumliche Beziehungen nur in einem Universum mit Massen existieren können. Machsche Ideen inspirierten ihn bei der Entwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie. Und tatsächlich produziert die allgemeine Relativitätstheorie gewisse machsche Effekte. Eine kugelsymmetrische Massenverteilung, die um einen Körper rotiert, bewirkt ein sogenanntes „inertial frame dragging“, das heißt, dass im Innern der Kugel Inertialsysteme nicht mehr solche sind, die sich gegenüber dem Fixsternhimmel mit konstanter Geschwindigkeit bewegen, sondern Systeme, die gleichsinnig mit der kugelsymmetrischen Massenverteilung rotieren, allerding mit geringerer Winkelgeschwindigkeit, abhängig von der Gesamtmasse der rotierenden Verteilung. Das heißt, ein newtonscher Eimer, der sich *nicht* dreht, würde in einem solchen System eine leicht parabolisch gewölbte Wasseroberfläche haben, und nur ein Eimer, der sich mit der richtigen Winkelgeschwindigkeit dreht, hätte eine flache Wasseroberfläche. Damit ist auch eine Rotationsgeschwindigkeit nicht mehr absolut. Der Zustand „Abwesenheit von Rotation“ wäre nur eine Abwesenheit von Rotation gegenüber den um das betrachtete Objekt verteilten Massen im gesamten Universum. Und die Rotation der Erde könnte nicht als eine absolute Rotation im Raum behauptet werden; es wäre genausogut möglich, dass die Erde sich nicht dreht und stattdessen das gesamte Universum sich um sie dreht. (Die eigentliche Aussage ist, dass diese beiden Situationen physikalisch nicht unterscheidbar sind.)
Allerdings ist die allgemeine Relativitätstheorie keine Theorie, die das machsche Prinzip vollständig verwirklicht, und Einstein hat sich bis zur Entwicklung der endgültigen Form der Feldgleichungen von der Idee wieder abgewandt. Eine durchgehend machsche Theorie dürfte als Lösung ohne Materie/Energie nicht die Minkowski-Metrik liefern wie das die allgemeine Relativitätstheorie tut, sondern müsste *gar keine* Metrik als Lösung haben, wenn der gesamte Raum leer ist, denn dann sollte er ja nicht existieren… Und es gibt keine Koordinatentransformation auf ein mitrotierendes Koordinatensystem, die aus einem rotierenden schwarzen Loch ein nichtrotierendes macht. Ersteres hat neben dem Ereignishorizont noch eine Ergosphäre mit nichttrivialer Form, die nicht einfach durch eine Transformation auf rotierende Koordinaten verschwindet.
Und während der newtonsche Raum bei Gültigkeit des machschen Prinzips weder eindeutig definierte Orte noch Geschwindigkeiten noch Winkelgeschwindigkeiten kennt, das ganze Konzept einer definiten Bewegung des Raums also sinnlos ist, hat der Raum in der Relativitätstheorie zwar auch keine fest definierbaren Orte und Geschwindigkeiten, aber man kann sagen, dass die Relativbewegung des Raums zum Ort jedes lokalen materiellen Objekts zwischen den Geschwindigkeiten -c und +c liegt. Rezessionsgeschwindigkeiten ferner Galaxien überschreiten deshalb die Lichtgeschwindigkeit, weil die Ausdehnung des Kosmos zu hohen
Geschwindigkeiten des Raums selbst führt. Die lokale Geschwindigkeit v einer Galaxie in dem sich schnell entfernenden Raumbereich liegt dabei immer betragsmäßig unter der Vakuumlichtgeschwindigkeit (-c < v < c).
Was bedeutet eine mögliche Gültigkeit des machschen Prinzips für die Frage, ob das heliozentrische, das geozentrische oder ein anderes Weltbild mit festem Ort oder fester Geschwindigkeit einer materiellen oder energetischen Struktur (Zentrum der Galaxis, Mikrowellenhintergrund) der Wirklichkeit entspricht? Es bedeutet, dass weder Mathematik noch physikalische Gesetze die Gültigkeit einer solchen Wirklichkeit begründen. Was im Zentrum der Welt steht, ist Definitionssache. Feste Orte gibt es erst mit der Definition von Bezugssystemen, physikalische Gesetze liefern keine Definitionsmöglichkeiten. (Orte, von denen aus man keine Dipolanisotropie des Mikrowellenhintergrunds sieht, als absolut ruhend zu definieren, weil dieser Hintergrund überall ist und deswegen ein universelles Bezugssystem liefert, ist nicht durch physikalische Gesetze gefordert. Dass der Mikrowellenhintergrund eine ruhende Energieverteilung darstellt, ist ja bestenfalls eine Folge der Anfangsbedingungen des Kosmos, nicht ein physikalisches Gesetz. Kein physikalisches Gesetz verbietet es, den Mikrowellenhintergrund als sich mit einer konstanten Geschwindigkeit von beispielsweise 200km/s bewegend anzusehen. In Ruhe wäre dann jeder Körper, der eine Dipolanisotropie des Mikrowellenhintergrunds sieht, die ihm ermöglicht, seine eigene Geschwindigkeit relativ zum Hintergrund mit -200km/s zu bestimmen.)
Die Aussage, unser Platz im Universum sei der durch das heliozentrische Weltbild nahegelegte auf einem Planeten, der unsere Sonne umkreist, und das sei die Realität, während die alte geozentrische Vorstellung, dass die Erde von der Sonne umkreist werde, falsch, also irreal, sei, ist somit zumindest fragwürdig. Was real ist, sollte objektive Konsequenzen haben. Die Frage, ob die Sonne oder die Erde im Zentrum steht, ist aber nicht objektiv beantwortbar, sondern die Antwort hängt von der Wahl des Bezugssystems ab (und es gibt natürlich auch welche, wo keiner dieser beiden Himmelskörper im Zentrum steht). Dass für Anwendungen auf der Skala des Sonnensystems, etwa die Beobachtung oder Berechnung von Planetenpositionen, in der Regel das heliozentrische System vorzuziehen ist, ist dabei keine Frage; Berechnungen sind darin wesentlich weniger aufwändig als sie es im geozentrischen Bild wären. Wenn es allerdings um Probleme in der Nähe der Erdoberfläche oder bis zur Mondbahn geht, dann ist ein geozentrisches Bezugssystem nützlicher. Weshalb sollte man sich da auf Koordinaten beziehen, deren Ursprung in der Sonne liegt? Und wenn man berechnen will, wie die Kollision der Andromedagalaxie mit der Milchstraße in ein paar Milliarden Jahren abläuft, dann wird man weder ein heliozentrisches noch ein geozentrisches "Welt"bild zugrunde legen, sondern ein Bezugssystem wählen, das seinen Ursprung entweder im schwarzen Loch in einer der beiden Galaxien hat oder irgendwo zwischen den Galaxien (etwa in ihrem gemeinsamen Schwerpunkt).
Es ist vielleicht nützlich sich klarzumachen, dass dynamische Bahnen von Objekten in der Mechanik keine objektive Form im Raum haben. Ein einfaches Beispiel: nehmen wir an, einem Reisenden, der allein in einem Zugabteil ist, wird langweilig, er holt einen Tennisball aus seinem Koffer und spielt mit dem, indem er ihn wiederholt auf den Boden tippt. Dabei springt der Ball senkrecht auf und ab. Seine Bahn ist also eine gerade Strecke, die er (mit zeitlich variierender Geschwindigkeit) periodisch durchläuft. Für einen Beobachter von außerhalb des Zuges bewegt sich der Ball aber auch horizontal, mit der Geschwindigkeit des Zuges. Wir wissen natürlich, wie seine Bahn dann aussieht: sie besteht aus lauter Parabelstücken (die vom Boden zur Hand des Ballspielers und wieder zum Boden laufen; am Übergang zwischen zwei Parabelstücken besteht ein Knick, und zwar am Boden immer und an der Hand, wenn dort die Aufwärtsgeschwindigkeit des Balls bei seiner Ankunft nicht null war). Welche Bahn ist die reale? Nun, *objektiv* real ist keine von beiden, denn objektiv bedeutet beobachterinvariant und die beiden Bahnen unterscheiden sich ja, weil sie die Versionen verschiedener Beobachter sind. Trotzdem sind die Bahnen nicht irreal oder "rein subjektiv". Sie sind objektivierbar, indem man nämlich das Bezugssystem mit angibt, in dem sie gelten. Jeder Beobachter kann feststellen, dass die Bahn im Bezugssystem des Reisenden eine senkrechte Strecke ist; er muss dazu nur die in seinem Bezugssystem festgestellte Bahn (z.B. mit Hilfe einer Galileitransformation) umrechnen auf das Bezugssystem des Reisenden. Und jeder Beobachter kann auch verifizieren, dass die von einem relativ zur Schiene ruhenden Beobachter festgestellte Bahn sich aus den von diesem angegebenen Parabelstücken zusammensetzt. Deswegen kann man beide Bahnen als real ansehen, nur nicht als objektiv (real).
Diese beobachterabhängige Realität kam in der Physik erstmals in großem Stil auf, nachdem Einstein seine spezielle Relativitätstheorie vorgestellt hatte. Damals wurden diverse Paradoxa erfunden, um zu zeigen, dass etwas an der Relativitätstheorie falsch war, und der paradoxe Aspekt beruht zum Teil darauf, dass man einer Größe objektive Realität zuspricht, die bezugssystemabhängig unterschiedliche Werte annimmt. (In der newtonschen Mechanik, auf der unsere Intuition aufbaut, hätte die Größe auch objektive Realität.) Ein bekanntes Beispiel ist die Längenkontraktion: ein Raumschiff von 100 m Länge, das auf eine hohe Geschwindigkeit relativ zur Erde beschleunigt wurde, ist aus Sicht von Beobachtern auf der Erde kürzer als 100 m, aus Sicht der Raumfahrer ist seine Länge unverändert 100 m. Was ist die reale Länge des Raumschiffs? Nun, es sind natürlich beide real, jede für den jeweiligen Beobachter bzw. das betreffende Bezugssystem. Darüberhinaus (und das ist der Punkt, der eine noch stärkere paradoxe Wirkung aufscheinen lässt) ist für den Raumschiffsbeobachter der Erdradius in Flugrichtung verkürzt, denn für ihn bewegt sich ja die Erde schnell, während die Erdbewohner nichts von einer geänderten Form der Erde merken. Ist die Erde nun wirklich ein Ellipsoid aus Sicht des Raumfahrers (wobei sie optisch weiter Kugelform hat https://timms.uni-tuebingen.de/tp/UT_20040806_001_sommeruni2004_0001, ihre Ellipsoidgestalt wird nur durch korrekte Längenmessungen seitens der Raumfahrer enthüllt) oder ist das irreal? Es ist real, aber im Bezugssystem der Raumfahrer, nicht objektiv. Im Bezugssystem der Erde bleibt sie eine Kugel (mit Äquatorwulst).
Offensichtlich ist die Form der dynamischen Bahn der Erde im Weltall ebenfalls eine Größe, die vom Beobachter (d.i. vom Bezugssystem) abhängt. Für einen auf der Erde sitzenden Beobachter ist diese Bahn einfach ein Punkt, denn die Erde bewegt sich ja nicht von ihm fort, sie bleibt immer an derselben Position (relativ zu ihm). In einem Bezugssystem, dessen Ursprung relativ zur Sonne ruht und das keine Rotation relativ zum Fixsternhimmel aufweist, ist die Bahn der Erde annähernd eine Ellipse (solange man den kleinen Einfluss der anderen Planeten vernachlässigt, der zu einer Periheldrehung der Erdbahn um etwa 11,8 Bogensekunden pro Jahrhundert führt). Für einen relativ zum Massenmittelpunkt der Milchstraße ruhenden Beobachter ist die Erdbahn sowas wie eine Spirale, die sich um die Sonnenbahn windet, eventuell zu einer gestreckten Zykloide entartet (wenn die Bahnebene der Erde parallel zur Milchstraßenebene liegt). Die Bahn der Sonne hat einen Radius von 25000 Lichtjahren. Das ist dann auch in guter Näherung der Radius der Erdbahn. Die eine astronomische Einheit, die die Erde von der Sonne entfernt ist, ist im Vergleich zu 25000 Lichtjahren vernachlässigbar. Und schließlich ist die geometrische Form der Erdbahn im Ruhsystem des kosmischen Mikrowellenhintergrunds (in dem dieser keine Dipolanisotropie hat) unbekannt.
Fazit: Die Aussage, dass sich die Erde in Wirklichkeit um die Sonne drehe, nicht die Sonne um die Erde, ist falsch, aber nur wegen der Kombination der beiden Aussagen als Widerspruch. Die Aussage, dass die Erde sich wirklich um die Sonne dreht, ist wahr aber nicht objektiv wahr. Sie ist richtig in einem Bezugssystem, das relativ zur Sonne in Ruhe bleibt. Sie ist falsch in einem Bezugssystem, dessen Ursprung an der Erdmasse festgemacht ist. Die Aussage, dass die Sonne sich wirklich um die Erde dreht, ist ebenfalls wahr aber nicht objektiv wahr. Sie ist wahr in einem erdfesten Bezugssystem. Sie ist falsch im Bezugssystem der Sonne.
Der Streit zwischen Geozentrikern und Heliozentrikern, der geschichtlich entschieden scheint, hat also keine objektive Lösung zugunsten des einen oder des anderen Weltbilds. Der aktuelle Vorteil des heliozentrischen Weltbild ist hauptsächlich psychologischer Natur. Die Vorstellung, dass das gesamte Weltall sich um die Erde dreht, widerstrebt uns und mancher würde heute wohl einwenden, dass die dabei auftretenden Überlichtgeschwindigkeiten der Sterne (Bewegung um viele Lichtjahre in einer Nacht oder einem Jahr) sie doch ins Reich physikalischer Unmöglichkeiten verweist. Nur — das stimmt nicht. Es ist ja kein Problem, eine Metrik für ein um die Erde rotierendes Weltall hinzuschreiben. Und da stellt man dann fest, dass es jenseits eines Radius, der dem Quotient aus Lichtgeschwindigkeit und Winkelgeschwindigkeit entspricht, keine koordinatenstationären Objekte (also "ruhende" Objekte) mehr geben kann. Alles muss innerhalb eines Geschwindigkeitsntervalls [-c,c] der kosmischen Rotation folgen. Die überlichtschnelle Rotation von Sternen kommt also dadurch zu Stande, dass der Raum selbst sich überlichtschnell dreht (was in der allgemeinen Relativitätstheorie genausowenig ein Problem ist wie eine überlichtschnelle Expansion des Universums) und Objekte wie Sterne sich mit Unterlichtgeschwindigkeit relativ zu diesem Raum bewegen. Es verbleibt natürlich immer noch ein anderes psychologisches Argument: warum sollte das Universum sich um die Erde drehen und warum nicht um andere Planeten? Was wäre ein legitimer Grund für die Vorrangstellung der Erde? Das ist natürlich nur dann ein echter Grund, wenn eine Drehung des Universums um die Erde objektiv wäre. Nur dann nämlich schließt sie die Drehung des gesamten Universums um andere Planeten aus. Solange die Realität einer Drehung um die Erde nur eine Frage des Bezugssystems ist, verfängt das Argument nicht.